Volkskunde gestern und heute
in: Bayerische Staatszeitung, Beilage "Der Staatsbürger", S. 1-6. Januar 1990
Volkskunde ist laut Brockhaus die „Wissenschaft von den Lebensformen des Volkes“. Dazu zählt das Lexikon Siedlung, Hausrat, Tracht, Volkskunst, Brauchtum, Volksglauben, Volksrecht und Volksdichtung. Diese Begriffe deuten wohl eher auf ein ländliches Leben hin, wozu außerdem noch sehr gut Begriffe wie Heimat, Tradition, Gemeinschaft, Kultur und Folklore passen. In der Tat spielt jeder dieser Begriffe in der Volkskunde eine große Rolle, aber in den letzten Jahren sind weitere hinzu gekommen, haben sich neue Forschungsfelder aufgetan. Ein Schlüsselwort ist Alltag, anhand dessen die „Kulturgeschichte der kleinen Leute“ (z.B. Dienstboten, Arbeiter, Knechte und Mägde, Gastarbeiter oder großstädtische Subkulturen) rekonstruiert werden soll. Kulturgeschichte wird aber nicht nur in bezug auf den Menschen betreiben, sondern auch auf Phänomene und Gegenstände, wie beispielsweise auf das Taschentuch, das Klo, den Zucker, das Salz, die Genussmittel, das Küssen, die Körperpflege, die Körperstrafen, den Selbstmord, den Tod, die Trauer, die Tränen, die Sinne, die Prostitution, die Kneipe, die Zeit, den Teufel, um nur einen Bruchteil der Themen kürzlich erschienener populärwissenschaftlicher Bücher zu nennen. Kulturgeschichte und Volkskunde sind also eng miteinander verwandt, wenn auch nicht deckungsgleich.
Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Volkskunde sich vor allem damit beschäftigte, was das Volk und der sog. Volkscharakter ist und das Fach dann in der Zeit des Nationalsozialismus zur Blut-und-Boden-Wissenschaft verkam, wovon es sich nur mühsam wieder erholte, hat vor allem die Aufbruchszeit der 68er Bewegung für neue Diskussionen und Konzepte gesorgt. Heute wird die Volkskunde vorwiegend als empirische Kulturwissenschaft wahrgenommen.