„Ich bin dabei gewesen!“ Zeitzeugen-Aussagen und ihre Problematik
in: zeitenweise. Geschichtsmagazin für München, Nr. 1, Geschichte und Gedächtnis, Dezember 1997, S. 8-11.
”Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach” (Friedrich Nietzsche).
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden heutzutage oft wie regelrechte „Stars“ gehandelt, ihre Aussagen als absolute Wahrheiten ausgegeben. Anhand einiger Beispiele werden in diesem Beitrag Zeitzeugnisse als eher unzuverlässige historische Quelle problematisiert und deutlich gemacht, daß jede Erinnerung selektiv ist; es wird aber auch aufgezeigt, worin die Stärken der „oral history“ liegen.
• Dokumentarfilm über die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ in Wien: zwei Männer stehen vor demselben Bild und werden dazu interviewt. Der eine sagt (sinngemäß): ”Jawohl, ich bin dabei gewesen, ich habe das alles gesehen!” – Der andere sagt: ”Ich bin auch dabei gewesen und ich weiß es genau, das hat es nicht gegeben, nicht in unserer Einheit, nicht in diesem Zeitraum!” (Ruth Beckermann, Jenseits des Krieges, 1996). Tatsächlich aber waren beide Männer zur selben Zeit bei derselben Wehrmachtseinheit. Während der eine sich an ein bestimmtes, historisch belegtes Verbrechen im letzten Weltkrieg erinnert, hat es der andere vergessen. Hat er es tatsächlich vergessen? Kann es sein, daß er es wirklich nicht miterlebt hat? Oder hat er es so erfolgreich verdrängt, daß es für ihn nicht mehr existent ist?
• Beitrag zum Geschichtswettbewerb der Stadt München: Eine Teilnehmerin schildert sehr eindrücklich den ersten Fronleichnamszug 1945 durch die Trümmer der Stadt. Unvergeßlich blieb das Ereignis für sie vor allem deshalb, weil dann auch noch, erstmals nach dem Krieg, die Glocken des Doms zu läuten begannen. Die Domglocken konnten damals aber gar nicht zu hören gewesen sein, sie waren erst ein Jahr später instand gesetzt worden. Warum war sich die Zeitzeugin dann so sicher gewesen über das "falsche" Datum? Hatte Sie sich damals nur gewünscht, die Glocken endlich wieder zu hören, und dieses Wunschdenken ist später in ihrer Erinnerung "wahr" geworden? Oder sind beide Ereignisse zeitlich deshalb in ihrem Gedächtnis zusammengefallen, weil sie beide bewegende Symbole der neuen Friedenszeiten waren?
• Es ist Weihnachten, Zeit für ein Familientreffen: Im Laufe des Abends kommt die Sprache auf ein gemeinsam erlebtes, weit zurückliegendes Ereignis, z.B. die erste Urlaubsfahrt. Der kleinste gemeinsame Nenner der ”kollektiven Erinnerung” aller Beteiligter sind wohl die unumstößlichen Fakten, also das Ziel der Reise, die Unterkunft, der Zeitraum. Aber dann werden die Erzählungen der einzelnen Familienmitglieder meist sehr unterschiedlich, weil jede / jeder die Situation gefiltert im Gedächtnis bewahrt hat. Häufig fallen dann bei solchen Treffen Sätze wie: ”Ach, das habe ich ja völlig vergessen!” oder ”Das hatte ich ganz anders in Erinnerung!”
Die Aufzählung solcher Beispiele für die ”Unzuverlässigkeit” des menschlichen Gehirns ließe sich beliebig verlängern. Wenn nun Gedächtnisleistungen so relativ und individuell geformt sind, welche Aussagekraft haben sie dann noch für eine seriöse Geschichtsforschung? Haben die Zeitzeugen-Aussagen der ”oral history”, der erzählten Geschichte, nicht eher mit Märchen als mit Wissenschaft zu tun? Es hat lange gedauert, bis die Verfechter der biographischen Methode mit solchen Vorurteilen aufräumen konnten. Heute ist die Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus verschiedenen Gründen auch in den historischen Wissenschaften fest verankert. Ein Umdenken setzte insbesondere Ende der 60er Jahre ein, als die Beschäftigung mit der "Geschichte von unten" einen Perspektivenwechsel in Gang setzte. Damals wurde eine ganze Reihe von Bereichen des gesellschaftlichen Lebens neu entdeckt, deren Erforschung bislang vernachlässigt oder vergessen worden war, wie z.B. der historische Alltag der "kleinen Leute", die Geschichte der Frauen oder der Arbeiter, der Mikrokosmos im Dorf oder im Stadtteil… Und dazu gab es häufig einfach keine schriftlichen Quellen, also mußten die Menschen befragt werden, die darüber etwas erzählen konnten.
Natürlich haben Zeitzeugen-Aussagen einen anderen Stellenwert als ”objektive” archivalische Quellen wie Dokumente, Urkunden, Protokolle oder Chroniken; sie sind ein subjektiver Zugang zur Geschichte. Das ist ein weiterer Grund, weshalb viele Historikerinnen und Historiker heute gerne damit arbeiten. Wenn beispielsweise eine ”Trümmerfrau” erzählt, unter welchen Umständen sie die Zeiten der Zerstörung und des Mangels meistern mußte, welche Schwierigkeiten die einfachste Grundversorgung ihrer Kinder mit Wohnung, Kleidung, Essen machten, was für ein Schatz ein CARE-Paket darstellte und wenn sie vielleicht noch genau den Inhalt des Pakets beschreiben kann, dann entsteht beim Zuhörer, bei der Zuhörerin ein weitaus plastischeres Bild im Kopf, als wenn von Versorgungseinheiten, Ernährungskrise und Integrationsproblemen die Rede ist. Sicherlich gibt es bei vielen Zeitzeugen-Aussagen Widersprüchlichkeiten, wird das eine oder andere Detail "falsch" erinnert, aber deswegen muß noch lange nicht die individuell erlebte Geschichte insgesamt infrage gestellt werden. Viele Einzelheiten solcher Erzählungen werden nicht nur durch andere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mit ähnlichen Erlebnissen bestätigt, sondern können durchaus auch in den Archiven nachgeprüft werden.
Und noch etwas spricht für die Arbeit mit Zeitzeugnissen. Es gibt Bereiche der Geschichte, die ohne die Schilderung persönlicher Erinnerungen kaum noch nachvollziehbar wären. Sechs Millionen Juden sind während der NS-Zeit ermordet worden, eine unvorstellbar hohe Zahl. Aber erst dann, wenn sich diese abstrakte Zahl auflöst in viele individuelle Einzelschicksale, wird die Vergangenheit überhaupt begreifbar. Wenn beispielsweise Helga Rosenbaum aus der Münchner Klenzestraße erzählt, wie sie als Zehnjährige von heute auf morgen Abschied nehmen mußte von ihren Eltern und Geschwistern, weil sie mit einem „Kindertransport“ ins rettende Ausland fahren konnte, dafür aber ihre gesamte Familie nie wieder sah, dann nehmen vergangene Zeiten ganz konkrete Formen an.
Geschichte besteht aus vielen persönlichen Erlebnisgeschichten, die die historische Realität weder vollständig noch repräsentativ widerspiegeln. Es gibt keine objektive Erinnerung, sie ist formbar und verändert sich im Lebenslauf immer wieder. Jede Erinnerung ist selektiv, d.h. es gehört immer auch zwangsläufig das Vergessen dazu, und sie durchläuft zudem zahlreiche Filterungen. Es macht beispielsweise einen großen Unterschied, ob ein Ereignis 5, 10, 30 oder 50 Jahre nach dem Erleben erzählt wird. Dennoch kann die Wechselwirkung zwischen "großer Geschichte" und "kleinen Geschichten" sehr spannend und aufschlußreich sein, sind persönliche Erinnerungen auch für die Geschichtswissenschaften wertvoll, wenn sie in einem historischen Gesamtkontext gesehen und kritisch eingeordnet werden.